KAROLINE Machen wir ein Selfie? KASIMIR Geh bitte. KAROLINE Damit die anderen wissen, dass wir auch da sind. Komm jetzt. KASIMIR Lass mich. Ich bin echt nicht in Stimmung. KAROLINE Niemand hat dich gezwungen mitzukommen. KASIMIR Na ja.
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Sehr frei nach Ödön von Horváth begibt sich das Theater im Bahnhof (TiB) mit Kasimir und Karoline nicht auf das Oktoberfest in München, sondern zur hiesigen Version, dem „Aufsteirern“. Dass das reale Volksfest in Graz im Jahr 2020 entfallen musste, gibt dem Ganzen eine zusätzliche Note. Für das Grazer Theaterkollektiv war von Beginn an klar, dass man sich am Kulturjahr beteiligen wollte; die Frage war nur, mit welchem Projekt. Das bereits zuvor in Grundzügen erarbeitete Konzept passte nach Meinung aller Beteiligten gut zur Kernfrage nach dem Leben in der Stadt – „in unserer Zeit“, wie es bei Horváth heißt. Ohne die Möglichkeiten des Kulturjahrs 2020 wäre das Stück in dieser Form nicht realisierbar gewesen. Welche Brisanz die Geschichte der Figuren „Kasimir und Karoline“ angesichts der aktuellen Entwicklungen aber bekam, war zu Beginn des Projekts noch gar nicht absehbar.
Die Arbeit steht dabei in einer Tradition, die das Theater im Bahnhof seit seinem Bestehen kultiviert. Die Schauspieler*innen wirken an der Entwicklung des Stücks mit, thematisch geht es oft um Alltagssituationen und um Identitätsfragen, die uns allen nicht fremd sind. Das TiB nimmt vor diesem Hintergrund ein Sujet aus der Literatur und transformiert dieses in die Gegenwart. Zur Erinnerung: Im Mittelpunkt des Originalstücks von Horváth stehen Arbeitslosigkeit und Entfremdung in München nach der Wirtschaftskrise von 1929 – inklusive einer letztlich gescheiterten Liebesbeziehung. 90 Jahre später in Graz sind all diese Themen von geradezu frappierender Aktualität. Wichtig für das Verständnis der TiB-Methode ist aber: Es handelt sich hier nicht um eine aktualisierte Version des Stücks, es finden sich keine zwei Worte von Horváth in der dystopischen Auseinandersetzung mit dem steirischen Volksfest.
Es geht nichts über gute Recherche Auf die durch die Pandemie schlagartig veränderte Situation in Graz und dem Rest der Welt reagierte das Theater im Bahnhof zuallererst mit Recherchen und Interviews. Schon zuvor hatte das Team einige Jahre lang das „Aufsteirern“ erkundet und Filmaufnahmen gemacht. „Wir haben wahrscheinlich mehr Material über das Fest als die Veranstalter selber“, sagt TiB-Regisseur Ed. Hauswirth. Die Veränderungen der Arbeitswelt, die spontan ausbrechende Arbeitslosigkeit, die fehlenden Perspektiven in manchen Berufsfeldern, wurden des Weiteren durch Gespräche mit unmittelbar Betroffenen und mit Expert*innen von der TU Graz ergründet.
Mitten in den Proben dann der Stillstand. Die Reaktion des Ensembles? „Arbeitssimulation bis zur Verreibung. Und dann Erwachen in der Realität“, fasst Hauswirth zusammen. Die nächste entscheidende Frage: Wie könnte man im September 2020 überhaupt Theateraufführungen durchführen? Nun, man konnte, wenn auch mit verschiedenen Auflagen wie Masken und Abstand. Matthias Ohner und Pia Hierzegger in den Hauptrollen bekamen ebenso positive Kritiken wie die restliche Besetzung und die Inszenierung. Die Befürchtungen, dass kaum jemand unter den geltenden Bestimmungen ins Theater gehen würde, erwiesen sich glücklicherweise als unberechtigt.
Damit soll es nicht vorbei sein, sagt Hauswirth: „Die Erkenntnis ist, dass dieses Thema weiter bearbeitet gehört. Das Theater sollte das auch in Zukunft in der Öffentlichkeit verhandeln.“